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Person
Entwicklung, so beschreibt der englische Psychoanalytiker Wilfred R. Bion seine Erfahrungen mit Gruppen, ist ein schmerzhafter Prozess, in dem das Primitive mit dem Weltoffenen, Erfahrenen, Intellektuellen zusammengebracht wird (Experiences in groups, 1961).
Diesen Mühen mag sich niemand gerne unterziehen. Daher, so Bion, spalten sich Gruppen in Entwicklungskonflikten häufig in zwei (scheinbar) gegensätzliche Untergruppen. Die eine stellt sich offen gegen neue Ideen und wählt sich einen Führer, der ihren Mitgliedern keinerlei Opfer abverlangt und daher populär ist. Die andere propagiert den Fortschritt und die neuen Ideen, ist allerdings so anspruchsvoll in ihren Forderungen, dass sich nur wenige ihr anschließen. Beide Untergruppen treffen sich im Ergebnis: Die Entwicklung der Gesamtgruppe unterbleibt.
Die Auseinandersetzung über Ausländer/innen in Österreich spaltet die Gesellschaft in ähnlicher Weise: Auf der einen Seite wird verleugnet, dass die Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte eine Chance ist und in noch stärkerem Maß sein könnte. Das primitivste aller Gefühle, der Hass, wird in Form von Schauergeschichten - nicht zuletzt auch durch den derzeitigen Zweiten Präsidenten des Nationalrates - ungeniert bedient. Der "kleine Mann" braucht selbst nichts zu tun, in der neuen Situation keine neuen Verhaltensweisen zu entwickeln, der Führer erledigt für ihn alles, und schuld sind ohnehin die Fremden.
Auf der Gegenseite geht es um hohe moralische Ansprüche. Ganz im Sinne des Bionschen Modells werden hier die "Anderen", in diesem Fall also jene, die Ausländern und Ausländerinnen feindselig gegenüberstehen, nicht umworben, sich dieser Moral anzuschließen - wie an einem aktuellen Beispiel deutlich wird: Der Aufruf zur Demonstration am 12. November will offensichtlich einen tiefen Graben zwischen den Guten und Bösen ziehen, dem vernichtenden Urteil des Rassismus kann sich nur entziehen, wer sich rechtzeitig auf die Seite der Guten schlägt. Das Kalkül: Ähnlich wie beim Lichtermeer soll ein machtvolles Zeichen gesetzt werden, und dann werden sich die Leute schon nicht mehr trauen, so böse zu sein.
Halbe Zustimmung
Konrad Paul Liessmann hat kürzlich in einem Kommentar im STANDARD (30. 10.; siehe auch Armin Thurnhers Replik auf S. 39) der kritischen Intelligenz des Landes vorgeworfen, "den Blick für die Realität" verloren zu haben. Ich teile seine Auffassung, dass "mehr Sensibilität für die realen oder imaginierten Ängste der Bevölkerung" angebracht ist. Nicht zufällig fällt der Stimmenzuwachs für das rechte Lager in eine Zeit, in der sich der Staat von der versorgenden und schützenden Rolle für den einzelnen tendenziell zurückzieht, während gleichzeitig ein rasanter technologischer Wandel Wirtschaft, Arbeitswelt und soziale Verhältnisse verändert. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit werden wohl auch damit zu tun haben.
Es kann aber nicht damit getan sein, wie Liessmann blinde Flecken, fehlerhafte Analysen und eine "fatale Präpotenz" der Intellektuellen aufzuzeigen und sich dabei gewissermaßen als Gutmensch höherer Ordnung zu fühlen. Die Bedrohung des zivilisierten Zusammenlebens durch Gewalt ist nicht von der kritischen Intelligenz erfunden worden, sie ist eine Tatsache, in vielen Fällen äußert sich der Hass gegen andere in offener Gewalt. Franz Fuchs mag ein Einzeltäter gewesen sein, seine Motive aber entsprechen einer Haltung, die in ihrem Kern durchaus verbreitet ist.
Gemischte Gefühle
Eine Strategie gegen Gewalt muss auf Dialog setzen, muss Gegensätze zusammenbringen, muss das "Gespräch der Feinde" (Friedrich Heer) ermöglichen. Derzeit spiegelt sich der gesellschaftliche Konflikt um das Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in Form und Inhalt in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien wieder. Die moralische Entrüstung gegen die Freiheitlichen, so berechtigt sie sein mag, hat auch einen parteipolitischen Nutzen - und das spüren die Leute.
Das größte Potenzial, der Gewalt entgegenzutreten, sehe ich daher in einem offenen Dialog mit den Freiheitlichen und im Versuch, sie in eine Kampagne gegen Gewalt einzubinden. Haider ist ein Zündler, er hat aber - das ist meine Einschätzung - kein Interesse an Gewalt. Und: Er hat Zugang zu jenen Gruppen, um die es geht. Es gibt deutliche Zeichen, dass Haider an einer Einbindung in eine solche Kampagne politisches Interesse haben könnte, nicht zuletzt, um sein Image zu verbessern.
Freilich geht damit die Möglichkeit verloren, Haider als das ultimative Böse in unserer Gesellschaft zu brandmarken. Das Ziel, die Festigung des Tabus gegen Gewalt, sollte diesen Verzicht wert sein. In diesem Sinn sehe ich dem 12. November mit gemischten Gefühlen entgegen: Ich bin für die Demonstration, weil sie ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit jenen, die von Gewalt und Hass unmittelbar betroffen sind, und ich bin gegen den Aufruf zu dieser Demo, weil er keinerlei Bereitschaft zum Dialog signalisiert - aber was nicht ist, kann ja vielleicht (bei künftigen Aufrufen) noch werden.
Dr. Karl Staudinger ist Politiktrainer und lebt in Preßbaum bei Wien.